Vorwort

»Wir, eine Gruppe politisch engagierter Menschen aus Erfurt, haben heute am 12. April um 9:00 Uhr das ehemalige Firmengelände des Nazi-Betriebs Topf & Söhne besetzt« – so begann die Pressemitteilung, mit der sich die Besetzer_innen 2001 an die Öffentlichkeit gewandt hatten. Ende 1997 war es mit dem autonomen Zentrum »Corax« zu Ende gegangen. Nach drei Jahren des politischen Taktierens zwischen Politik, Verwaltung und dem damaligen Haus-Verein Allerlei e.V. war die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Kaum jemand glaubte noch daran, auf dem Verhandlungswege ein Haus zu bekommen. Mit der Besetzung des ehemaligen Topf & Söhne-Geländes wollten die Beteiligten wieder selbst die Initiative für ein selbstverwaltetes Zentrum ergreifen. Seit 1995 hatte keine Besetzung in Erfurt länger als zwei Wochen gehalten.

Marcel Müller beschreibt in seinem Beitrag, wie die Entscheidung zustande kam, gerade dieses Gelände zu besetzen: An einem Abend unter der Krämerbrücke wurde beschlossen, sich der Herausforderung der Besetzung eines Täterorts zu stellen. Dabei rechnete niemand damit, dass man gleich acht Jahre auf dem Gelände würde bleiben können. Mit der Besetzung ging die Selbstverpflichtung einher, sich mit der Geschichte des Holocausts zu befassen und eine angemessene städtische Erinnerungspolitik einzufordern. Schließlich war bekannt, dass auf dem Firmengelände in der NS-Zeit die Krematoriumsöfen für Auschwitz und andere Konzentrations- und Vernichtungslager hergestellt wurden.

Eine Fläche von über 50.000 m2 – etwa acht Fussballfelder – umfasste die gesamte Industriebrache, ca. ¼ davon wurde besetzt. Auf diesem Teil gab es über die Jahre hinweg eine ungeheure Breite von Projekten. Zu Beginn kamen diese noch weitgehend aus dem direkten Kreis der Besetzer_innen, aber schon in den ersten Wochen entfaltete sich auf dem Gelände ein konstruktives Chaos, das ein Interview mit ehemaligen Bewohner_innen des Wagenplatz auf den Punkt bringt: Als eine Gruppe junger Punks gehört hatte, dass ein Haus besetzt wurde, besorgte man sich Bauwagen, ging auf das Gelände und fühlte sich zuhause. Wie ihnen sollte es zahlreichen weiteren Projekten und Menschen gehen: Man hatte eine Idee, suchte sich Leute und fand einen offenen Raum. Das Hausplenum wäre manchmal gerne deutlicher in der Position gewesen, die entscheidende Instanz für das gesamte Gelände zu sein. Letzten Endes gab es aber ein solches politisch-organisatorisches Zentrum nicht, sondern eher ein dynamisches Netz von höchst unterschiedlichen Projekten und Einzelpersonen, die immer wieder neu ihre Position zueinander und zur Restwelt aushandelten. Die Beiträge »Die Organisierung des Chaos« und »Mittwochs ist doch Plenum« machen dieses Spannungsverhältnis nachvollziehbar. Die große Differenz zwischen den verschiedenen Wünschen und Ansprüchen der Nutzer_innen wird ein Stück weit deutlich, wenn man die Beiträge der Punks Rüdiger und Keller mit denen der Bewegungsintellektuellen Gesa Wolf und Marcel Müller vergleicht. Die extreme Unterschiedlichkeit der Nutzer_innen hat zu Konflikten geführt, aber auch eine produktive Spannung aufgebaut, aus der Prozesse entstanden sind, die weder in einem reinen Punkerschuppen noch in einer studentischen Politgruppe möglich gewesen wären. Coma Richter resümiert das in einem Interview wunderbar: »Großartig ist, wenn in einem Projekt Leute aus extrem verschiedenen Ecken sich ’nen Kopf machen und Sachen zusammen auf die Beine stellen«.

Um den Alltag in einem selbstverwalteten Projekt sichtbar zu machen, haben wir im Oktober 2011 viele Besucher_innen und Besetzer_innen angesprochen: »Wir wollen aus der langen Besetzungszeit ein Stück Bewegungsgeschichte in einer Broschüre festhalten. Dafür brauchen wir Deine Hilfe. Hast Du an einem besonders skurrilen Abend das Haus besucht, an einem herausragenden Konflikt teilgenommen, ein bemerkenswertes Flugblatt abgetippt, eine abseitige Analyse anzubieten? Wir wären erfreut, davon zu hören! Natürlich anonym wenn gewünscht.« Es gab daraufhin so viele Zuschriften, dass aus der geplanten Broschüre ein Buch geworden ist. Zu Wort kommen viele Besetzer_innen, aber auch Menschen, die das Haus ›nur‹ besucht haben oder die aus der Perspektive außerhalb des Hauses organisierter politischer Zusammenhänge auf das Projekt blicken. Besonders erfreut waren wir über einen anonym bei uns eingegangenen Brief an einen alten Bekannten und kastenförmigen Unterstützer der Besetzung, den wir auf S. 135 abdrucken.

Wir haben die Zuschriften behutsam lektoriert und gekürzt. Etwaige sprachliche Besonderheiten und individuelle Vorstellungen über Grammatik und Genderung haben wir in der Regel beibehalten. Die meisten Namen haben wir auf Wunsch der Autor_innen geändert.

In einigen Beiträgen versuchen wir, Konfliktlinien innerhalb des Projekts zu rekonstruieren. Gleich zu Beginn stritt man über Kapitalismus und darüber, wie man sich zu den deutschen Nachbar_innen ins Verhältnis setzen solle. Wenig später war die Prämisse: »Es geht um Israel«, so der Titel eines umstrittenen Diskussionsabends am 12. April 2002, bei dem die Veranstalter_innen ein Hausverbot aussprachen, über dessen Hintergründe wir mit zwei der damals Beteiligten sprachen. Damit war der Streit um antideutsche Positionen freilich nicht beigelegt, wie man an den folgenden Beiträgen über eine mit Hundekot beschossene USA-Fahne und einen verärgerten israelischen Filmemacher lesen kann. Neben dem Streit um Israel war die Auseinandersetzung um (Anti)Sexismus einer der großen Konfliktpunkte, an denen sich nicht nur in Erfurt die linke Szene der 2000er-Jahre gespalten hat. Auf dem Topf & Söhne-Gelände ist die Spaltung ausgeblieben, auch wenn einige Leute im Zuge der Auseinandersetzung das Projekt verlassen haben. Gesa Wolf begründet in ihrem Beitrag »Definitionsmacht oder bürgerlicher Staat«, warum es richtig war, sich im Streit um sexualisierte Gewalt parteiisch auf die Seite der Betroffenen zu stellen. Wir können hier keine detaillierte Darstellung der historischen Bedeutung der Firma Topf & Söhne liefern. Aber wie die Besetzer_innen halten wir es für notwendig, mit der Geschichte zu konfrontieren, wenn von dem Firmengelände die Rede ist. In einem eigenen Kapitel versuchen wir daher, einen Überblick über die Geschichte zu geben und eine Vorstellung von der Geschichtspolitik der Besetzer_innen zu vermitteln. Die aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte begann in den ersten Tagen der Besetzung. Vor allem die Rundgangsgruppe und das Autonome Bildungswerk haben versucht, sich ein Bild von der Rolle von Topf & Söhne beim millionenfachen Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas zu machen. Im Laufe der Besetzung beschäftigten sich die Besetzer_innen zunehmend damit, die Geschichte des Geländes in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Auf dem Gelände wurden Tafeln an geschichtlich bedeutsamen Gebäuden angebracht, es wurden regelmäßig Führungen über das Gelände angeboten, sowie Kundgebungen und geschichtspolitische Vorträge und Ausstellungen organisiert. Ein wichtiger Partner war dabei von Anfang an der Förderkreis Geschichtsort Topf & Söhne, der sich seit Ende der 1990er-Jahre für eine Aufarbeitung der Geschichte der Firma eingesetzt hatte. Dass das Verhältnis zum Förderkreis aufgrund der unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen nie widerspruchsfrei war, zeigen die Beiträge zur Geschichtspolitik des Besetzten Hauses und das Interview mit einem Besetzer und Julika Bürgin vom damaligen Förderkreis.

Die Geschichte der Besetzung eines Täterorts endete mit der gewaltsamen Räumung des Projekts am 16. April 2009. Auch wenn das Verwaltungsgericht Weimar im Nachgang festgestellt hat, dass die Polizei dabei z.T. rechtswidrig vorgegangen ist, ändert das nichts daran, dass dieser Tag für viele immer noch eine traumatische Erinnerung ist – wegen der erfahrenen Gewalt und Willkür seitens der Polizei, aber auch, weil ein wichtiger Bezugspunkt für Politik, Kultur und Alltag verloren gegangen ist. Die folgende Welle der Solidarität entschädigt nur wenig dafür, dass es seitdem in Erfurt kein Autonomes Zentrum mehr gibt. Es bleibt, wie es in einem der letzten Texte heißt, den Besetzer_innen des ehemaligen Topf & Söhne-Geländes für 2920 wunderbare, chaotische, streitsame und verrückte Tage zu danken und darauf hinzuweisen, dass die wechselhafte Geschichte von Hausbesetzungen in Erfurt seit 1989 vor allem eins beweist: Dass es immer wieder gelingt, kreativ und subversiv selbstverwaltete Räume zu erkämpfen. In diesem Sinne möchte dieses Buch weniger zur nostalgischen Rückschau verleiten als Mut machen für neue Besetzungen.

Karl Meyerbeer und Pascal Späth für die Herausgeber_innengruppe

Pascal Späth hat mehr als sechs Jahre auf dem besetzten Gelände gewohnt.

Karl Meyerbeer war ab Ende der 1990er-Jahre in verschiedenen Politgruppen in Erfurt aktiv und hat die Besetzung von Beginn an unterstützt.